I Ich habe (leider) ziemlich viele sehr gute Musiker im Bekanntenkreis, die aus dummem Stolz knapp an Hartz IV vorbeischrammen, nur weil sie sich nicht "prostituieren" wollen. Ich habe mich schon in sehr jungen Jahren dafür entschieden, von meinem Hobby und meiner Passion zu leben, da muß man Kompromisse machen! Es ist auch musikalisch ziemlich abwechslungsreich, wenn man innerhalb von 3 Tagen von My Way über Ernst Mosch zu Jamiroquai geht. Oder alles zusammen an einem Abend...
Also ich habe einen Tag darüber nachgedacht, ob ich dazu was schreiben soll. Ich tue es einfach mal, denn ich bin deiner Ansicht nach einer dieser "sehr guten Musiker" (wenn auch nicht aus deinem Bekanntenkreis) "der aus dummem Stolz knapp an Hartz IV vorbeischrammt"... Ganz so schlimm ist es bei mir nicht, wobei ich mir mal ausgerechnet habe was wäre wenn ich Hartz IV hätte, mir die Wohnung vom Amt bezahlen lassen würde und nen paar Jobs cash machen würde und naja... reden wir nicht drüber...
Man kann aber mal über Stolz und Prostitution sprechen. Man kann darüber sprechen, Künstler und nicht nur Handwerker zu sein. Man kann darüber sprechen Musiker und nicht nur Mugger (also Musik gegen Geld) zu sein. Mir ist völlig klar was du mit deinem Beitrag meinst und auch ich kenne Konsorten, die wirklich völlig an der Realität vorbei leben. Aber haben diese wirklich so unrecht? Muss man jeden Scheiß spielen? Ist es das Ziel nach Musikstudium und Jahrzehnte länger Beschäftigung mit dem Thema reiner Lokalmugger zu werden und - im wörtlichsten Sinne - auf jeder Hochzeit zu tanzen? Klar kann ich mich hin stellen und immer nur covern und am besten auch nur das, was die Leute hören und gleich den DJ noch mit zu machen um den paar Scheine extra zu bekommen, aber was unterscheidet mich dann bei der Hochzeit oder dem Geburtstag vom Caterer, vom Kellner? Nicht falsch verstehen, das sind wahnsinnig wichtige und nette Leute und ich käme nie auf die Idee mich als was besseres zu bezeichnen - aber bin ich nach 7 Jahren künstlerischem Studium wirklich mit einer Aushilfe gleich gestellt, der auf der Party für Taschengeld das serviert, was die Leute essen wollen?
Ich schreibe das bewusst etwas provokativ, mache ich selber doch solche Jobs auch. Ja ich spiele über den Sommer sogar in einer großen Top40/Gala-Band mit 50 Gigs, 5 Stunden Programm jeden Abend mit allem was dazu gehört: Helene, Andrea, Howard, Matthias, Marianne, Kerstin und alle die lieben Stars und Sternchen, die bei einer bestimmten Zielgruppe extreme Popularität besitzen. Es ist wie es ist, ich mache das nicht wahnsinnig gerne, gehört aber zum Job. Dazu ist es ne extrem coole und musikalisch gute Band, absolute erste Garde von Musiker die es eben machen, um die Kohle zu verdienen, Spaßfaktor stimmt also. Vom Programm kann ich aber auf 99% verzichten, nur will es nun mal gehört werden von den Massen. Ich kenne also den Job, aber soll ich mich deswegen jetzt Beweihräuchern das ich anderer Bassisten Linien nachspiele? Ne ich glaube nicht, das ist schlicht und einfach nur gelerntes Handwerk mit 0 künstlerischen Anspruch. Da gehört nix dahinter außer ein paar Jahre gut geübt zu haben, dann ist es nur Malen nach Zahlen. Natürlich muss es solche Musik und solche Veranstaltungen auch geben, aber das kann es als Musiker doch nicht sein oder?
Wenn ich wollen würde, könnte ich 150 solcher Gigs im Jahr spielen. Als Bassist der (so sagen es die Leute zumindest) recht tight spielen kann, einen Geschmack für die passende Noten hat und zuverlässig seinen Job macht, wollen mich hier alle lokalen Bands früher oder später haben. Wie viele Anfragen ich schon abgelehnt habe... Bissle Jazz-Standards da, bissle "Wir-machen-eine-auf-Loungeband-und-arrangieren-alles-mit-einem-Bossa-light-im-Hintergrund" dort, bissle Kirmes mit Schlager hier, bissle Rockcover in der Kneipe beim Altstadtfest, bissle Oratorium bei der Dorfgemeinde im Telefonorchester... Gähnnn… Und was als nächstes? Blasorchester mit Ernst Mosch Literatur, die wahnsinnig anspruchsvoll und genial komponiert ist, von 99% der Kapelle so unglaublich schlecht gespielt das ich Ohrenkrebs bekomme? Oder die Möchtegern-Funkband die ihren Kram so eckig und weiß spielt und dabei einen auf cool und Groove macht, nur jeder Ami sich kaputt lachtwenn er das hört? Klar kann ich viel und abwechslungsreich spielen, das bedeutet aber auch das ich alles nur halb gut spiele weil ich gar nicht tief genug in die Materie einsteigen kann. Man kann das natürlich so machen aber ich lasse es, dafür habe ich zu viel Anspruch an mich und das, was ich tue. Ach ja, dann natürlich noch der Moment wenn der Muggerkollege voller Ehrfurcht sagt: "Wir spielen auch Baby Love, die Nummer ist schwer, kannst du das am Bass??". Ne 3er-Verschiebung auf 16tel-Basis ist schwer? Wirklich jetzt? Ich lach mich kaputt, das ist Aufnahmeprüfung Hochschule, also vor Semester Nr. 1! Schwer ist es mit einem harmonischen Verständnis eines Anthony Jackson Linien zu improvisieren, die musikalisch Spannung aufbauen. Schwer ist es einen wirklich tighten Funklick über 10 Minuten in ungeraden Taktarten zu spielen, dabei so hart an der Microtime zu grooven das kein Arsch mehr sitzen bleiben kann. Schwer ist es eine Sinfonie von Prokofjev zu interpretieren, die voller Geist und Witz strotzt und dabei trotzdem immer irgendwie ein wenig sperrig wirkt. Schwer ist es eine Konzeptalbum wie Sergant Pepper oder Dark Side aus dem Nichts zu komponieren, Sounds zu gestalten, es aufzunehmen und produzieren. DAS ist Musik machen!
Würde ich nur nach Anweisung anderer arbeiten wollen, hätte ich mich auch für einen anderen Beruf entschieden, dann hätte ich z.B. richtiger Handwerker werden können, da bleiben einige Scheine mehr im Monat hängen bei freien Wochenenden. Aber ich bin Musiker geworden weil ich als junger Mensch den innigsten Wunsch hatte mich auszudrücken, etwas zu sagen, eine Message in die Welt hinaus zu schreien - oder in meinem Fall am Bass zu spielen. Das man damit in einer Gesellschaft, welche durch Geld und Materialismus diktiert wird, schlechte Karte hat ist nicht toll aber ein Preis, den ich gerne bereit bin zu zahlen. Und hier kommen wir nun zu Stolz und Prostitution: Als Musiker verdiene ich so wenig Geld in Anbetracht zur Zeit, dass ich es auch gleich lassen kann. Meine Lebensgefährtin ist ne klassische BWLerin, arbeitet in einem großen Konzern als Personaler. Sie prostituiert sich jeden Tag, sie hasst ihren Job weil sie null Entfaltung dort hat, bekommt aber mit 8 Scheinen im Monat ein akzeptables Schmerzensgeld. Nun will ich einen einzigen Mugger sehen, der im Monat mit seiner Art der Prostitution so einen Betrag macht...
Also von was reden wir hier eigentlich? Soll ich mich prostituieren, den letzten Mist spielen um auf ein Monatsgehalt zu kommen, welches jeder gelernte Facharbeiter nach einer Ausbildung im Monat im Rahmen einer Festanstellung bekommt, dabei auch mal krank sein darf und sichere Einkommensverhältnisse hat? Der Musiker dagegen als Akademiker ist Freiberufler in der KSK, rennt dem Geld hinterher, ihm selber darf nichts passieren und er genießt absolut null rechtlichen Schutz wenn z.B. in Coverband XY die Sängerin wechselt, deren Mann auch Bass spielt und der Bandleader dich plötzlich rausschmeißt damit dieser dort spielen kann weil die Sängerin so zufrieden ist und bleibt....?!? Danke nein, da bin ich dann wirklich zu Stolz für und lasse es, lebe lieber von weniger Geld aber habe dafür die Zeit und Muße mich künstlerischen Projekten zu widmen. Klar bin ich damit nicht erfolgreich und die Wahrscheinlichkeit das ich es werde ist bei 0,00000001% aber "Hey", ich lebe authentisch mein inneres Seelenleben, gebe alles was in mir ist für eine Sache und kann abends, wenn ich in den Spiegel schaue, mir keinen Vorwurf machen es nicht versucht zu haben. Und nochmal, auch ich spiele in so einer Kompromisstruppe um auf meine Kohlen zu kommen, ich bin sicherlich kein Träumer im Elfenbeinturm. Ich weiß was der fuckin' Job ist, was dazu gehört und das man Abliefern muss. Aber es gibt Grenzen, die jeder persönlich zieht und da ist auch völlig okay so. Nur Menschen/Musiker, welche diese eben woanders ansetzen, als "dumm" zu bezeichnen, finde ich nicht in Ordnung. Leben und leben lassen!
In diesem Sinne,
Grüße an die hartzenden Musiker, Hen
